Martha
S. Halpert
Das
Haus des Terrors in Budapest
(„morgen“
6/05)
Der
Geruch erinnert an den Turnsaal in der Schule; eine Schweißwolke schwebt im
Raum. Der Geruch verschütteter süßlicher Leichtgetränke umgibt eine Gruppe
gelangweilter Jugendlicher, die im Eingangsbereich des Museums offensichtlich
gerade vor einem Pflichtbesuch stehen. Ein Genrebild geradezu, das man so überall
in Europa erleben kann - und durch das sich die jungen Ungarn im Budapester
„Haus des Terrors" keineswegs von anderen Jugendlichen irgendwo sonst
unterscheiden. Nur, was ihnen hier geboten wird, ist einmalig - nämlich
ungarische Vergangenheitsbewältigung im Schnellgang.
Nun
trägt das „Terrorháza" („Terrorhaus" auf Ungarisch) seine
Bezeichnung leider zu Recht. Denn dieses ehemals elegante Bürgerpalais auf der
dicht begrünten Prachtallee - der Andrassy ut - war von 1939 fünf Jahre lang
die Parteizentrale der Pfeilkreuzler, jener sich auf heidnische Traditionen
berufenden rechtsradikalen Vereinigung rabiater Antisemiten in Ungarn. Wobei
das Palais bis 1944 „Haus der Loyalität" hieß und seine Kellergeschoße
als grausames Gefängnis benützt wurden.
Einst
(jüdisches) Bürgerpalais, jetzt Ort der Gleichmacherei von Antisemitismus und
Stalinismus. Schon beim Betreten des Museums wird die Gleichwertigkeit der
beiden Ereignisse suggeriert: Zwei gleich große glänzende Marmortafeln, die
linke in Schwarz mit weißem Pfeilkreuz - dem Symbol der ungarischen Faschisten
- und rechts davon die rote Tafel mit dem fünfzackigen Stern für die
Kommunisten. Beide haben fast gleich lautende Inschriften: „Zur Erinnerung an
die Opfer des Terrors“.
Im
Februar 1945 - und nach der Besetzung Budapests durch die Rote Armee - nahm
sodann die kommunistische ungarische Geheimpolizei AVO das Haus in Beschlag und
übte von hier aus ihre Schreckens-Herrschaft aus. Der Gefängnis-Keller wurde
vergrößert und zusätzlich mit schallgedämpften Folterkammern versehen. Es
war dies die Zeit der permanenten stalinistischen Säuberungen in allen
Volksdemokratien, der in Ungarn jene zum Opfer fielen, die sich gegen die herrschende
politische Doktrin stellten, antikommunistisch oder antisowjetisch waren oder
der jeweils herrschenden Clique in der Kommunistischen Partei im Wege standen.
Die Hexenjagden richteten sich nicht zuletzt gegen die eigenen Funktionäre und
jene Gegner, denen man „konterrevolutionäre" Aktivitäten unterstellte,
die dann tatsächlich in der Revolution von 1956 zum Vorschein kamen. Jedenfalls
zog noch im gleichen Jahr und nach dem Sieg einer prosowjetischen Clique unter János
Kádár die Geheimpolizei aus der Andrassy ut aus - wobei sie noch fleißig
daranging, ihre Blutspuren zu verwischen. In den 70er Jahren und danach
herrschte nämlich in den Kellerräumen, in denen immerhin Tausende Menschen
gefoltert worden waren, eine lockere Atmosphäre: Ein Club junger Kommunisten
hatte es sich dort bequem gemacht. Das „gulaschkommunistische" Ungarn war
zur „Lustigsten Baracke des Ostblocks" geworden ...
DIE
GESCHICHTE MIT DER UNSCHULD. Jetzt steht die Schülergruppe in eben diesem Gebäude,
das Jahre später - konkret 2002 - von der rechtskonservativen Regierung Viktor
Orbán renoviert und unter der Leitung der umstrittenen ungarischen Historikerin
Maria Schmidt als Museum eröffnet wurde.
Dröhnende,
filmtrailerartige Musik unterlegt die Männerstimme, die in dramatisierendem
Tonfall Namen aufsagt. Ein sowjetischer Panzer mit seinem bedrohlichen Rüssel
dominiert den kleinen Innenhof. Hinter dem Panzer ist eine Wand vom Parterre bis
zum dritten Stock mit Hunderten schwarz-weißen Porträts voll gekleistert:
Opfer des kommunistischen Terrors. Und das zieht sich durch: Während nur zwei
Räume den Verbrechen der Faschisten und Nazis an den Juden gewidmet sind - ihre
Opferzahl betrug immerhin 600.000 im Vergleich zu rund 3.000 stalinistischen
Opfern -, dominieren die Untaten der Kommunisten das gesamte Haus. Dazu das
zentrale Motto der Museumsbetreiber: Die Ungarn waren immer nur Opfer - zuerst
jene der Nazis und dann jene der Kommunisten.
„Die
ständige Ausstellung ist antihistorisch, ahistorisch und politisch gelenkt",
entrüstet sich denn auch László Karsai, 55-jähriger Geschichtsprofessor an
der südungarischen Universität Szeged: „Die Botschaft ist populär: Fast
jeder Ungar ist unschuldig. Die Hauptschuld tragen die fremden Mächte - zuerst
die Deutschen und dann die Russen. Und außerdem soll es ganz wenige Kollaborateure
gegeben haben ...", legt er mit beißender Ironie nach.
Die
nicht nur partei-, sondern auch gesellschaftspolitische Auseinandersetzung mit
dem transportierten Selbstbildnis einer Nation beschäftigt allerdings
mittlerweile die ungarische Öffentlichkeit nachhaltig. Seit Entstehung des
Museums wurden allein mehr als 3.000 Themenbeiträge in ungarischsprachigen
Medien publiziert.
„Bei
uns steht die anti-totalitäre Deutung im Vordergrund. Denn wir sind so glücklich,
dass unsere Systemumstellung 1989/90 ohne Blutvergießen abgelaufen ist",
erzählt Gabor Tallai, der Programmdirektor des Museums. „Trotzdem haben wir
zwölf Jahre zum Kräftesammeln gebraucht, um das historische Erbe zu verarbeiten."
Aber
gerade an dieser unreflektierten Gleichmacherei von wehrlosen Opfern erhitzen
sich die Gemüter sowohl vieler historisch gebildeter Intellektueller wie auch
einfacher Bürger und Zeitzeugen. „Ohne jeden Skrupel können wir uns betrauern
und andere verurteilen", empört sich auch die Soziologin Eva Judit Kovács,
die am Zentrum für Mitteleuropäische Studien in Budapest forscht und lehrt.
„Indem das Terrorhaus Halbwahrheiten in gefälschter Umgebung verbreitet, entlässt
es den Besucher frustriert und beladen mit Ressentiments."
Doch
Programmdirektor Tallai, der früher deutsche Literatur ins Ungarische übersetzte,
bleibt unbekümmert bei seiner lauen Überschrift zu NS-Zeit und Kommunismus.
Sein Titel lautet: „Die Ungarische Tragödie".
Noch
eindeutiger und drastischer als der Programmdirektor zeigt die Museumsdirektorin
Maria Schmidt, welch Geistes Kind sie ist. Vier Jahre, von 1998 bis 2002, war
sie Regierungsberaterin von Ministerpräsident Viktor Orbán - und wurde zur
Urheberin der Relativierungen des Holocausts; Schmidt wörtlich: „Im Zweiten
Weltkrieg ging es nicht um das Judentum, um den Völkermord. So leid es uns auch
tut: Der Holocaust, die Ausrottung oder Rettung des Judentums war ein nebensächlicher,
sozusagen marginaler Gesichtspunkt, der bei keinem Gegner das Kriegsziel
war."
Ein
Blick in die ungarische Geschichte zeigt allerdings, dass es für die Volksseele
psychologisch schwer verdauliche Ereignisse gab, die bis heute verhindern, sich
unbeschwert im Spiegel der Geschehnisse zu besehen.
Bereits
vor Beginn des Zweiten Weltkrieges erließ nämlich die ungarische Regierung
unter Reichsverweser Admiral Miklos Horthy antisemitische Gesetze. 1938 und 1939
wurde mit zwei so genannten Restriktionsgesetzen die Ausgrenzung der Juden
betrieben: Ihr Anteil in der Wirtschaft und in den freien Berufen wurde zunächst
auf 20 und schließlich auf sechs Prozent beschränkt; schon viel früher, nämlich
1920, hatten dabei „christliche" Studenten einen Numerus clausus gegen
ihre jüdischen Kommilitonen durchgesetzt.
Ah
1939/1940 wurden Juden gezwungen, als Hilfskräfte des Arbeitsdienstes (Munkaszolgálat)
Zwangsarbeit zu leisten. Diese Maßnahmen erfolgten in ungarischer Eigenregie,
war doch die „Hungaristen"-Partei der Pfeilkreuzler bereits 1939 die
zweitstärkste Kraft im Parlament.
Außenpolitisch
hatte sich Ungarn durch den Beitritt zum „Dreimächtepakt" (Deutschland,
Italien, Japan) im November 1940 der Hegemonialmacht Deutschland verpflichtet.
Es folgten die Teilnahme an der Besetzung Jugoslawiens im April 1941 und der
Krieg gegen die Sowjetunion. „Die Ungarn waren Opportunisten, die sich dem
deutschen Lager zum Zweck des Gebietserwerbs anschlossen", schreibt dabei
Raul Hilberg in dem Standardwerk „Die Vernichtung der europäischen
Juden" (Fischer Verlag): … Mit
deutscher Hilfe wurde eine dreifache Expansion - nach Norden in die
Tschechoslowakei, im Osten nach Rumänien und im Süden nach Jugoslawien - in
weniger als drei Jahren erreicht." Wobei die Ungarn in alledem eine
Revision des Vertrages von Trianon (1920) sahen, durch den sie nach dem Ersten
Weltkrieg große Gebietsverluste hinnehmen
halten müssen.
Dennoch:
Bis 1944 lebten die 750.000 ungarischen Juden durchaus auf einer Art Insel
inmitten eines zerstörten Europas, während die deutsche
Vernichtungsmaschinerie eine jüdische Gemeinde nach der anderen auslöschte.
Doch in Berlin hatten die braunen Schreibtischmörder auf ihren relativ unabhängig
agierenden Verbündeten Ungarn dennoch nicht vergessen. Typisch für die
Situation war Horthys Begegnung mit Hitler auf Schloss Kleßheim/Salzburg im
April 1943: Auf deutschen Wunsch betreffend die Verschärfung der
antisemitischen Politik reagierte der ungarische Reichsverweser mit der
Bemerkung, er habe den Juden nun schon so ziemlich alle Lebensmöglichkeiten genommen
- erschlagen könne er sie doch nicht. Daraufhin schaltete sich der deutsche Außenminister
Ribbentrop in das Gespräch ein und erklärte, dass die Juden entweder
vernichtet oder in Konzentrationslager verbracht werden müssten ... einen
anderen Ausweg gebe es nicht.
Und
tatsächlich - genau das geschah: Am 19. März 1944 besetzten deutsche Truppen
Ungarn, um ein Ausscheren der Magyaren aus dem Kriegsbündnis zu verhindern.
Zugleich
erreichte die Shoah die ungarischen Juden: Adolf Eichmann unterteilte das
Land in sechs Zonen, aus denen die Deportationen stattfinden sollten. Die ersten
zwei Züge verließen Ungarn am 27. und 28. April 1944. Bis zum 9. Juli, dem
Abschluss der Säuberungen von fünf Zonen - nur die sechste Zone, Budapest,
blieb vorerst ausgespart -, waren nach Angaben des SS-Brigadeführers Edmund
Veesenmayer 437.402 Juden in Viehwaggons gepfercht worden. Die Mordmaschine
hatte sich perfektioniert: Noch nie wurden innerhalb so kurzer Zeit so viele
Menschen in den sicheren Tod geschickt. „Aber Ungarn war das einzige Land, in
dem die Täter bereits zu Beginn ihrer Tat wussten, dass der Krieg verloren
war", schreibt der Historiker Hilberg dazu.
Nur
noch die Budapester Juden blieben bis zum Putsch der
Pfeilkreuzler-Partei am 15. Oktober 1944 von den Deportationen ausgenommen.
Eichmann hatte die Juden in der Hauptstadt so gettoisiert, dass sie in der Nähe
von vermeintlichen Luftangriffszielen der Alliierten lagen; gleichzeitig waren
sie dem zum Teil außergewöhnlich brutalen Terror der heimischen
Pfeilkreuzler ausgesetzt.
Und
es waren ungarische Gendarmen, die zwischen dem 14. Mai und dem 9. Juli 1944 das
Zusammentreiben der Juden durchführten. Aber immerhin: Bei der Befreiung
Budapests durch die Rote Armee im März 1945 waren noch 120.000 Juden am Leben.
DIE
SACHE MIT DER SYNAGOGE. Bei alledem stellt sich die Frage: Kann man Mord und
Mord gleich gewichten?
„Nun
- wir haben uns im ‚Museum des Terrors' deshalb verstärkt der Aufarbeitung
der kommunistischen Ära gewidmet, weil damals im Regierungsbeschluss sowieso
die gleichzeitige Errichtung eines Holocaust-Museums vorgesehen war",
rechtfertigt sich Gabor Tallai heute. Und tatsächlich wurde am 15. April 2004
auch ein Holocaust-Museum in Budapest eröffnet - das fünfte seiner Art
weltweit und das erste in Osteuropa.
Aber
Tallai verschweigt schamhaft, dass erst der anhaltende und internationale
Protest gegen die einseitige Lesart der ungarischen Geschichte á la Maria
Schmidt es gewesen war, der die Regierung Orbán so sehr erschreckte, dass sie
den Weg für das Holocaust-Museum überhaupt freimachte. Wobei sich nicht nur am
„Haus des Terrors", sondern auch am Holocaust-Museum scharfe Kritik entzündete.
Denn die Pava utca, wo sich eine ehemalige Synagoge befindet, ist eine enge
Seitenstraße weit außerhalb des Stadtzentrums. „Man muss von der Existenz
des Museums schon etwas wissen ansonsten würde es keinen Fremden in diese
trostlose Ecke der Stadt verschlagen", kritisiert Richard Chaim Schneider
in der Wochenzeitung „Die Zeit" den Standort des Holocaust-Museums. Mit
dieser „Verbannung", so die Kritiker, werde zusätzlich und bewusst der
Holocaust aus dem Bewusstsein der ungarischen Gesellschaft verdrängt und an den
Rand geschoben. Imre Kertesz, Literaturnobelpreisträger und Auschwitz-Überlebender,
ging seinerzeit so weit, an der Eröffnung nicht teilzunehmen. Denn er empfand -
wie viele andere Juden in Ungarn und im Ausland auch - das Verhalten der
Regierung als skandalös: Der Holocaust sei eine gesamtgesellschaftliche Angelegenheit
und keine Frage des Judentums, schon gar nicht der jüdischen Religion ...
Aber
auch im Holocaust-Museum war nach der Eröffnung zum Beispiel nichts über den
Antisemitismus der zwanziger und dreißiger Jahre zu erfahren, nichts auch über
die Ära Horthy ... mittlerweile meinten die blauäugigen Verantwortlichen,
dass das alles noch erwähnt werden würde ... bis freilich die aktuelle ungarische
Parteipolitik den Plan vereitelte. Diesmal war es der neuen sozialistischen
Regierung aus Prestigegründen wichtiger, das Museum pünktlich zum 60.
Jahrestag des Beginns der Deportationen aus Budapest einzuweihen, als eine
seriöse ständige Ausstellung einzurichten.
„SKULPTUREN
DER ERINNERUNG". Aus dem Keller des „Terrorhauses" kommen die
Jugendlichen dennoch bedrückt heraus. Die kahlen Kellerziegel mit
gekritzelten Inschriften und den vergilbten Fotos vieler hier gequälter
Menschen haben sie nicht ungerührt gelassen. Sie drängen nach draußen, in die
Herbstsonne, die kalt vom eisblauen Himmel strahlt. Auf der belebten breiten
Prachtstraße können sie befreit aufatmen.
Was
sie von hier mitnehmen, ist freilich in ihren Köpfen und Herzen verborgen.
Sie verlassen ein Prachtgebäude, das bis 1936 der (jüdischen) Familie Perlmutter
gehörte. Einige gehen die Andrássy ut entlang - benannt nach dem ungarischen
Patrioten Graf Gyula Andrássy, der ein führender Politiker in der österreichisch-ungarischen
Doppelmonarchie war - nach Norden zum Heldenplatz, andere zieht es nach Süden,
Richtung Budapester Oper.
Vielleicht
schlendern auch einige Richtung Donau - um das Gesehene zu vergessen. Aber auch
dort werden sie von der Vergangenheit eingeholt. Denn auf der heute belebten
Uferpromenade hatte man
vor
61 Jahren Tausende Juden in die Donau getrieben und erschossen. Wo die Gräuel
passierten, hat man Schuhe, große und kleine, Männer- und Frauenschuhe als
„Skulpturen der Erinnerung" befestigt. Hatte man doch bei den Erschießungen
1944 die Juden förmlich aus ihren Schuhen gekippt. Sechs Jahrzehnte später
sind diese Schuhe symbolisch auf Metallpfähle geschweißt - „damit sie nicht
leicht abmontiert werden können", erzählt die Budapester Soziologin Eva
Kovács.
Dennoch
fehlten erst kürzlich eines Morgens mehrere Schuhe. „Unpolitischer
Vandalismus" lautete die routinierte Antwort der Polizei. Aber als der
Wasserspiegel sank, fand man die eisernen Schuhe in der Donau. Irgendwer hatte
2005 den unvergessenen Verhassten auch noch die Schuhe nachgeworfen ...