"Wir sind Museum!"

Europas Zukunftssuche in der Vergangenheit: Über das Elend rückwärtsgewandten Denkens 
in der Geschichtspolitik zwischen Wien, Berlin und Brüssel - Von Oliver Rathkolb

Was haben SPÖ-ÖVP-Regierungsabkommen 2007, Brüssels Europamuseum, "Bauhaus Europa" in Aachen und Angela Merkels Vision für die bevorstehende Berliner Erklärung zum 50. Jahrestag der Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft gemeinsam: Musealisierungen der Vergangenheit werden in Zukunftsvisionen transponiert. Im Regierungsabkommen/Kapitel Kunst und Kultur wird das "Haus der Geschichte"-Projektteam aufgefordert, bis Juni eine Roadmap vorzulegen, aber auch ein Projekt zur Musealisierung der Geschichte Österreichs im Kalten Krieg im Europäischen Kontext paktiert, und Tourismus-Verantwortliche sollen in Schloss Schönbrunn das "Imperial Austria" Museum aus dem Boden stampfen.

Weniger transparent hat das EU-Parlament das belgische Projekt eines Europamuseums zum Jahrestag der EWG-Gründung wieder aus ihrem Brüsseler Neubau hinauskomplimentiert und stattdessen ein Besucherzentrum auf der Basis eines Grundkonzepts des Ausstellungsmultis Lord in London hineingestellt, das aber die Historisierung Europas deutlich reduziert. Der neue Präsident Hans-Gert Pöttering (CDU) postulierte hingegen kürzlich einen Kurswechsel und schlug vor, den Bürger/innen die EU durch ein neues "Haus der Europäischen Geschichte" näher zu bringen.

Doch schon die Werte-Debatte zur Berliner Erklärung Angela Merkels - zum Beispiel über die Sozialunion als europäische Zielvorstellung, wie bereits 1957 vergeblich von Frankreich in die Gründungsverträge der EWG hineinreklamiert - dokumentiert, welch heißes Eisen gerade das Projekt einer Musealisierung Europas ist. Daran ändert die ebenfalls von Deutschland getragene Debatte über ein "gesamteuropäisches Geschichtsbuch" nichts, sondern verschärft vielmehr die Konfliktlinien zwischen den national geprägten Erinnerungen der EU-27.

Dazu kommt, dass die Menschen andere Sorgen und Probleme haben, als einem Museumsgroßbauprojekt zuzustimmen: So zuletzt 2006 in Aachen, als die Bevölkerung der Stadt den faszinierenden Neubau des österreichischen Architekten Wolfgang Tschapeller auf historischem Boden und damit die Dauerausstellung über die Geschichte Europas angesichts der Folgen von Harz IV verhindert hat.

In einen Satz gefasst: In Europa und Österreich herrscht ein politischer Museumsplanungsboom, der seine Basis in der Unsicherheit der Menschen über die künftigen sozioökonomischen Entwicklungen hat. Seit Ende des Kalten Krieges ist die Welt komplexer geworden, und umso stärker drängen Politik und Wissenschaft Richtung Rückversicherung und

Stabilisierung durch Suche nach festen Geschichtsbildern zur Absicherung Identität stiftender, aber derzeit erodieren- der nationaler und europäischer Mythen und Meistererzählungen.

Es bleibt zu hoffen, dass im Falle der österreichischen Museumsprojekte nicht Rückwärtsgewandtheit obsiegt, sondern eine kühne und zukunftsorientierte Auseinandersetzung mit den historischen Prägungen unserer Gesellschaft breiten und unzensurierten Raum erhält. Was auch bedeuten müsste, interdisziplinäre Zusammenarbeit zu suchen und nationalstaatliche Geschichtskonzepte à la ("Wir sind Kalter Krieg", "Wir sind Staatsvertrag") endlich zu begraben.

Es ist schon paradox, dass Österreicherinnen wie Claudia Haas das Grundkonzept für das Besucherzentrum des EU-Parlaments planen und österreichische Architekten wie Tschapeller atemberaubende Projekte in internationalen Wettbewerben gewinnen, aber die nationalen Entscheidungsmechanismen von den Interessen einiger weniger Akteure außerhalb der Politik und von Ansätzen hegemonialen Geschichtsdenkens beherrscht werden.

Ein internationaler Wettbewerb über ein Visualisierungs- und Interpretationskonzept von historischen Spuren in Österreichs jüngster Vergangenheit, bei dem Historiker, Architekten, Ausstellungsgestalter, Ethnologen, Soziologen u. a. gemeinsam neue kritische Fragen stellen und mehrdimensionale Wege entwickeln, würde die Chance für eine weltoffene Geschichtsauseinandersetzung mit Europa und Österreich eröffnen: Weg von nationalstaatlicher Selbstbespiegelung, hin zu kritischer Reflexion unter Einbindung der Perspektiven von außen. Dann sollte es möglich sein, jene Traumata, Brüche, aber auch Kontinuitäten und Leistungen, die wir laufend in geschichtspolitischen Debatten verhandeln, in einen zukunftsorientierten Diskurs einzubringen.

2008 wird die Probe aufs Exempel liefern - mit einem "heißen" und einem "erkalteten" Erinnerungsort: 12. März 1938 - 80 Jahre "Anschluss" an das nationalsozialistische Deutschland, 12. November 1918 - Ausrufung der Republik Deutsch-Österreich, ein längst verdrängter, einst heftig umstrittener Nationalfeiertag, in dessen Rezeption sich die gewalt- und konfliktreiche politische (Un-)Kultur der Ersten Republik widerspiegelt.
(DER STANDARD, Printausgabe, 23.3.2007)

Oliver Rathkolb leitet das Ludwig-Boltzmann-Institut für Europäische Geschichte in Wien.