"Der Falter" 10/2008
Erinnerung und Mahnung
KOMMENTAR
Es ist Zeit, die historischen Ereignisse des Jahres 1933 und 1938 unaufgeregt zu betrachten,
MICHAEL SPINDELEGGER
Das Gedenkjahr 2008 wird mit dem Jahrestag des Anschlusses, dem 12. März, seinen ersten Höhepunkt finden. Es wäre hoch an der Zeit, die historischen Ereignisse, die viele Jahrzehnte zurückliegen, unaufgeregt und möglichst frei von Emotionen zu betrachten. Zusätzlich wäre das Gedenkjahr ein Anlass, die Brückenfunktion Österreichs in Mitteleuropa in der Geschichte und für die Zukunft zu betonen, ohne die dunklen
Kapitel unserer Geschichte auszublenden. Hannes Androsch hat an dieser Stelle vor zwei Wochen angeregt, anstelle eines Gedenkjahres das Projekt "Haus der Geschichte" weiterzubringen. Das eine schließt aber das andere nicht aus: Im Gegenteil könnten wir das Jahr 2008 nützen, um das von Androsch erwähnte Projekt voranzutreiben. Unsere Brückenfunktion in Europa könnte gleichfalls als thematische Klammer über die geschichtliche Darstellung fungieren. 1918 ging der Vielvölkerstaat der österreichisch-ungarischen Monarchie zu Ende. Die unterschiedlichen Bestrebungen der damaligen Zeit - etwa jene in Richtung eines Ständerates - gehören näher durchleuchtet, um so den nicht eben geradlinigen Weg zum Parlamentarismus im heutigen Sinne nachvollziehbarer zu machen. Eine besondere und gleichzeitig die schwierigste Aufgabe ist die Aufarbeitung des Jahres 1933, als es zur sogenannten Selbstausschaltung des Parlaments kam. Wohl kaum ein Ereignis wird von den politischen Parteien unterschiedlicher beurteilt, was nicht zuletzt mit der differenten Sichtweise auf die damals handelnden Personen
zusammenhängt. Für die Sozialdemokraten ist der christlich-soziale Bundeskanzler Engelbert Dollfuß, der in der Folge autoritär regierte, zu allererst "Austrofaschist" oder, wie es Androsch in den Salzburger Nachrichten ausdrückte, "Arbeitermörder".
Derartige Begriffe erscheinen mir für die Betrachtung der Ereignisse am Vorabend des "Finis Austriae" aber so wenig hilfreich wie der Begriff des "Ständestaates". Denn weder wurde der Ständestaat-Impetus der berufsständischen Ordnung verwirklicht, noch war Dollfuß Faschist: Dazu fehlten seinem Regime charakteristische Merkmale wie der Mythos einer politischen Religion, der Totalitätsanspruch, die imperiale Fantasie oder auch das jugendliche Erscheinungsbild, wie Robert Kriechbaumer in "Ein Vaterländisches Bilderbuch. Propaganda, Selbstinszenierung und Ästhetik der Vaterländischen Front 1933-1938" (Wien, Köln, Weimar 2002) beschreibt.
Im Jänner 1933 war Adolf Hitler deutscher Reichskanzler geworden, der innere und äußere Druck der Nationalsozialisten auf Österreich nahm zu. Das Dollfuß-Regime lehnte sich in dieser Situation an das faschistische Italien an, das Österreich zunächst auch die Unabhängigkeit garantierte. Das war nicht nur undemokratisch, sondern auch dem Bündnispartner Heimwehr geschuldet, der mit Mussolini als Einziger einen internationalen Partner gegen Hitler an der Hand hatte. So gesehen war Dollfuß kein Demokrat und mitverantwortlich für das Ende des Parlamentarismus in Österreich. Das darf aber nicht darüber. hinwegtäuschen, dass er auch überzeugter und mutiger Gegner der
Nationalsozialisten war, obwohl diese ihm nach dem Leben trachteten.
Nur wenige wissen, dass Dollfuß, der 1934 einem Attentat der Nationalsozialisten zum Opfer fiel, bereits im Oktober 1933 - am Eingang zum heutigen ÖVP-Klub im Parlament - von einem Nazi angeschossen wurde. Er weigerte sich trotzdem, die Nationalsozialisten in die Regierung einzubinden.
Man muss Dollfuß weder glorifizieren noch heroisieren, aber eben auch diese Seite seiner Person in die Bewertung der Geschichte mit einbeziehen. Umweltminister Josef Pröll sagte vor einiger Zeit, das Dollfuß-Bild sehe er deswegen eben nicht nur als Erinnerung, sondern auch als Mahnung. Diese Kontextualisierung, dieses Sowohl-als-auch-Erkennen macht die Qualität eines Gedenkjahres aus, nicht das Fortschreiben von alten Schwarz-Weiß-Mustern. Historische Persönlichkeiten haben eben immer Licht- und Schattenseiten.
So auch Karl Renner, an dessen Gedenktafel im SPÖ-Klub sich niemand stößt und dessen Ja zum Anschluss von sozialdemokratischer Seite - und von Androsch vor zwei Wochen an dieser Stelle - gerne heruntergespielt wird. Androsch versucht dies, indem er Renners Ja mit jenem der Bischöfe gleichsetzt. Das aber ist historisch nicht haltbar, wie der Kirchenhistoriker Maximilian Liebmann in seinem Buch "Theodor Innitzer und der Anschluss" (Graz, Wien, Köln 1988) nachweist.
Die Bischöfe wurden von NS-Gauleiter Josef Bürckel zu ihrem Aufruf gedrängt und verfassten diesen nicht selbst. Renner aber ergriff selbst die Initiative, diente sich dem NS-Regime aktiv an und bot ohne äußeren Druck die propagandistische Vermarktung seines selbstverfassten Aufrufs an. Wäre es nach ihm gegangen, wäre dieser mit seinem Bild versehen an den Plakatwänden der Bundeshauptstadt affichiert worden.
Es gibt also auch bei Renner Facetten, die mehr Schatten als Licht auf seine Person werfen, wobei der Vollständigkeit halber auch seine euphorisch-triumphierenden Worte anlässlich des Hitler-Einmarsches in der Tschechoslowakei zu erwähnen sind. Das alles kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass er bei der Wiedererrichtung der Republik eine entscheidende und positive Rolle gespielt hat.
Wir sollten Geschichte gerade in der jetzigen politischen Phase, die mehr von psychologischen Motiven denn von inhaltlichen Momenten geprägt zu sein scheint, unvoreingenommen und möglichst frei von Emotionen betrachten. So könnte man das Gedenkjahr - unter Berücksichtigung der erwähnten Brückenfunktion - für einen gemeinsamen Blick in die Zukunft nützen.
Michael Spindelegger ist niederösterreichischer ÖVP-Abgeordneter und zweiter Nationalratspräsident. Als solcher ist er zuständig für zeitgeschichtliche Themen in seiner Partei.