Das Gedankenjahr ist Geschichte 

GASTKOMMENTAR VON ROMAN SANDGRUBER
(Die Presse) 04.01.2006

Zurücklehnen kann man sich nach dem Gedankenjahr nicht. Auf die Zeitgeschichte in Österreich wartet noch viel Informationsarbeit.  

Das "Gedankenjahr" ist Geschichte. Als Projekt der Vermittlung und
Bewusstmachung war es zweifellos ein großer Erfolg. Zwei große Ausstellungen, die zusammen mehr als eine halbe Million Österreicher erreicht haben, fast in jeder Gemeinde Projekte und Aktivitäten, die Einbindung der Schulen, der Medien, selbst der Künstler, auch wenn diese immer wieder ihre distanzierte Haltung betont haben - all dies ist bemerkenswert. Man wäre kein Österreicher, würde man nicht trotzdem unzufrieden sein. Sicherlich, der Begriff "Gedankenjahr" war etwas zu dick aufgetragen. 

 Über die 25 Peaces mit ihrem bisweilen ins Peinliche abrutschenden Aktionismus, der Vermauerung der Heldenplatz-Statuen, dem Gemüsegarten vor der Hofburg, den Kühen im Park des Belvedere oder gar der wie ein Lichterdom nachgestellten Bombennacht wird man sehr geteilter Meinung sein. Wie viele Österreicher tatsächlich vom Kranwagen, der den Balkon des Belvederes darstellen sollte, ihr "Österreich ist frei" heruntergeschrieen haben, entzieht sich der allgemeinen Kenntnis. Die gegenüber den jüdischen Opfern unsensible Aktion mit den weißen Kreuzen am Heldenplatz ist Gott sei Dank schon im Voraus gestoppt worden. Das "Kochen nach Zonen" entsprach zwar den wirklichen Interessen der Österreicher, aber auch darüber gibt es keine Erfolgsmeldungen. Geschichtsvermittlung ist eben bisweilen auf einer sehr trivialen Ebene angelangt, was angesichts der dafür aufgewendeten extrem hohen Fördergelder, die bei ernsthaften Projekten fehlen, sicher kritisch zu reflektieren ist.

Was war der Ertrag für die Wissenschaft? Es ist in diesem Gedankenjahr viel geschehen, um die österreichische zeitgeschichtliche Forschung aus ihrer fast manischen Fixierung auf die Jahre 1933 bis 1945 herauszuholen, vielleicht auch zum Leidwesen jener Wissenschaftler, die fast ausschließlich damit ihr Süppchen bestreiten. Die beamtete Zeitgeschichte, etwa das große Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien mit seinen etwa 20 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern hat sich mit der extra hervorzuhebenden Ausnahme von Oliver Rathkolb völlig aus den Themen des Gedankenjahres absentiert und seine Fixierung auf die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts beibehalten. Auch die "Zeitgeschichte", das der österreichischen Zeitgeschichte gewidmete Journal, ist nicht anders vorgegangen. 

Die Ausstellungen sind geschlossen, die Exponate wieder in die Depots geräumt. Die übrig gebliebenen Kataloge werden demnächst billig abgestoßen werden. Der nie ausgelieferte, in zehntausend Exemplaren gedruckte Kinderkatalog der Belvedere-Ausstellung ist "zwischengelagert", wie sich die Verantwortlichen vorsichtig ausgedrückt haben. Was wird bleiben? Es ist mehr als bemerkenswert, dass die wichtigsten Forschungen und Veröffentlichungen, die zur österreichischen Zeitgeschichte nach 1945 in diesem Gedankenjahr erschienen sind, nicht von den offizielle Aktivitäten des Gedankenjahrs getragen sind, etwa die große Wirtschaftsgeschichte der ersten zehn Nachkriegsjahre, die wir dem ehemaligen Staatssekretär und renommierten Wirtschaftsforscher Hans Seidel verdanken, oder die großartige Geschichte der Zweiten Republik, die Oliver Rathkolb in diesem Jahr herausgebracht hat, und auch nicht die dreibändige Österreichische Industriegeschichte, die aus privater Initiative in einem Team aus Wissenschaftlern und Praktikern entstanden ist. 

Bleiben werden auch die umfangreichen Quelleneditionen, die aus Anlass des Gedankenjahres entstanden sind, die Editionen von Akten aus russischen Archiven oder zur österreichischen Außenpolitik und der Protokolle des Ministerrats. Was fehlt, ist die Zukunftsfähigkeit. Gerade die Quelleneditionen, die ja keine Lesebücher sind, werden weiter ganz konventionell in dickleibigen Büchern gedruckt und die vorhandenen Disketten entsorgt, während auf der anderen Seite von denselben Förderstellen viel Geld aufgewendet wird, um die im 19. und 20. Jahrhundert publizierten mittelalterlichen Urkunden zu digitalisieren und ins Internet zu stellen.

Zu einem virtuellen Haus der österreichischen Geschichte, das eine zukunftsfähige Aufbereitung und Vermittlung der Zeitgeschichte zum Inhalt hat, wie es die Bundesrepublik Deutschland schon seit Jahren besitzt und wie es viele öffentliche und private Stellen weltweit bereits aufgebaut haben, hat sich die Republik Österreich immer noch nicht aufraffen können und hat im Gedankenjahr diesbezüglich eher Schritte zurück als nach vorne gemacht. Nur das Land Oberösterreich hat es als Beitrag zum Gedankenjahr in die Hand genommen, ein zukunftsfähiges virtuelles Forum und Haus der oberösterreichischen Geschichte aufzubauen. 

Zurücklehnen wird man sich nach dem Gedankenjahr weniger denn je dürfen. Es ist höchste Zeit, in der Erforschung und Vermittlung der österreichischen Zeitgeschichte neue Wege zu beschreiten. Wenn der langjährige ÖVP-Politiker und Nationalratspräsident Alfred Maleta von einem seiner damaligen, durchaus auch heute noch sehr renommierten politischen Mitbewerber in einer Publikation, die zum Gedankenjahr verfasst wurde, mit Doppel-t geschrieben wird, offensichtlich in Analogie zur viel bekannteren Melitta-Kanne, weiß man, dass auf die Zeitgeschichte in Österreich noch viel Informationsarbeit wartet, nicht nur bei der so genannten breiten Masse, sondern auch bei den Spitzen der Republik.