Der Standard,  29. April 2003                                                                                                                                                                                                                                                Startseite
Kommentar der anderen 

Und wo steht Europa im "Haus der Geschichte"? 
Eine Erwiderung auf Trautl Brandstaller 

Oliver Rathkolb* 

Trautl Brandstaller hat in ihrer couragierten Initiative mit Peter Diem
versucht, die in Zyklen ausbrechende Debatte über "Häuser der Geschichte" in
Österreich, die seit 1995 Parlament, Medien und Wissenschaft beschäftigt, neu
zu positionieren - vor dem Hintergrund einer entsprechenden Initiative des
Nationalratspräsidenten Andreas Khol (STANDARD, 23. 4.). 

Dazu eine grundsätzliche Bemerkung vorweg: Ohne klare unabhängige
Rahmenbedingungen wird die explizit angestrebte Kooperation mit der
überwiegenden Mehrheit der Zeithistoriker/innen, die dem Projekt wegen der
hohen regierungspolitischen Instrumentalisierungsgefahr derzeit ablehnend
gegenübersteht, nicht zu gewinnen sein.

Und: Weder die im Brandstaller-Konzept als Expertenboard vorgesehenen
Ordinarien und Ordinariae für Zeitgeschichte, noch die letztlich in der
Forschung längst dominierenden außeruniversitären, freien Historiker/innen
genügen, um ein offenes Konzept so umzusetzen, dass es von der Öffentlichkeit
angenommen wird. 

In diesem Sinne hoffe und warte ich daher noch immer auf den von allen
Parlamentsparteien 1999 einstimmig beschlossenen Ideenwettbewerb zu diesem
Projekt, in das auch Vertreter/innen anderer Disziplinen aus den Bereichen
Kultur- und Sozialwissenschaften interdisziplinär eingebunden werden müssen! 

Was mich an der Initiative von Brandstaller/Diem inhaltlich irritiert, ist
die enge Fokussierung auf (klein)österreichische Geschichtsfelder und deren
Wurzeln im Habsburger-Imperium. Der "Kampf" um die österreichische Identität
ist längst gelaufen - und momentan zeigen alle Umfragen, dass das
österreichische kollektive Selbstverständnis zunehmend von Solipsismus und
nationalem Narzissmus geprägt wird.

Gerade vor dem Hintergrund der aktuellen Debatte über eine europäische
Verfassung, ist es an der Zeit, diese Fixierung auf Klein-Österreich
aufzugeben und die nationale Geschichtserzählung in gleichwertiger
Auseinandersetzung mit dem europäischen Kontext zu reflektieren. Leo Zelman
hatte ja neben dem spezifischen Ort, dem Palais Epstein, vor allem die
europäische Dimension von Xenophobie und Völkermord ins Zentrum seiner
Überlegungen gestellt.


Verengte Sicht 
Es geht aber noch um etwas anderes: Mit Europa-Münzen und der europäischen
Fahne allein wird man kein europäisches Bewusstsein schaffen können. Während
die nationalen historischen Bilderwelten übergehen an identitätsstiftenden
Symbolen, Mythen und Erzählungen, beschränken sich so genannte offizielle
Europa-Geschichtsbücher auf Legitimationsstrategien für ein christliches
Abendland als Basis der EU. (Die rezente Debatte über die Verankerung der
christlichen Werte in der Verfassung - und sei es auch nur in der Präambel -
eine zwangsläufige Folge dieser Geschichtskonstruktionen.) 

Tatsächlich hat Europa eine gemeinsame Geschichte und ein Wertesystem, das
sich - wie die Debatte über den Irak-Krieg einmal mehr sichtbar macht - von
jenem der USA deutlich unterscheidet. Und diese Unterschiede betreffen
keineswegs nur den militärischen Bereich sondern - trotz Coca-Kolonisation
und Globalisierung - die gesamte Lebens- und Arbeitswelt. 


Überholtes Modell 
Wäre es vor diesem Hintergrund nicht angebracht, bei der inhaltlichen
Diskussion über ein "Haus der Geschichte" in Österreich das diesem bisher
zugrunde liegende nationale Modell nach Vorbild der Bundesrepublik (ein
inzwischen veraltetes Konzept der 1980er Jahre, auf das skurriler Weise der
Europarat noch 1995 alle Mitgliedstaaten eingeschworen hat), in Frage zu
stellen? Gerade nach der Erweiterung der Europäischen Union müsste es doch
möglich sein, in breiteren Dimensionen zu denken - Österreich nicht als Nabel
der Welt für "Mitteleuropa", sondern als Clearing House europäischer
Geschichte. 

Hier passen die heiklen politischen Themen, die Trautll Brandstaller nennt,
wie Nationalismus, Antisemitismus, Antislawismus, Entwicklung der
Massenparteien und der Demokratie ebenso hinein, wie der Zweite Weltkrieg,
die Wehrmacht oder der Holocaust, ohne dabei die Verantwortung von
Österreichern an der NS-Vernichtungsmaschinerie auszulöschen. 

In diesem Sinne ist beispielsweise die zuletzt wieder thematisierte
Vertreibung der rund 3 Millionen Sudetendeutschen nur ein Teil des
Gesamtthemas der über 60 Millionen Menschen, die im 20. Jahrhundert Opfer von
"ethnischen Säuberungen" wurden.

Aber - und dies erscheint mir ebenfalls wichtig zu sein - die europäische
Geschichte ist auch durch zahlreiche positive Entwicklungen geprägt, die
nicht verschwiegen oder verdrängt werden sollten. 

Fazit: Europäische Fokussierung und interdisziplinäre Arbeitsorganisation,
getragen von einer regierungsfernen, parteiunabhängigen Stiftung, bieten eine
Chance, diesem Projekt Innovationscharakter mit internationaler
Vorbildwirkung zu geben. Sonst bleibt es - wenn es überhaupt realisiert
werden sollte - ein ungeliebtes nationales Heimatmuseum. 

* Der Autor ist Koleiter des Boltzmann Instituts für Geschichte und Gesellschaft am 
Institut für Zeitgeschichte der Uni Wien und derzeit Gastprofessor am Department 
of History der University of Chicago.
                                                                                                                        
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