Die ganze Wahrheit ist zumutbar
ANDREAS KHOL (Die Presse)

Die Arbeit an einem Konsens über die Jahre 1933 bis 1938 muss weitergehen.

Die aggressiv-ablehnende Äußerung von Minister Darabos zur Aussage von Otto Habsburg im Reichsratssaal stellt die These des „Presse“-Chefredakteurs unter Beweis: In der Bewertung der Rolle unseres Landes beim und nach dem Anschluss 1938 sind viele auf dem Weg, den Opfermythos durch einen Tätermythos zu ersetzen. Habsburg trat dafür ein, dass Österreich Opfer des Nationalsozialismus geworden sei. Vom 12.3.1938 an war unsere Republik nicht mehr handlungsfähig, konnte daher weder Täter noch Mittäter sein, war Hitlers Opfer.

Habsburg war allerdings zur Rolle der Österreicher nicht klar genug. 250.000 jubelten am Heldenplatz, Hunderttausende wurden später Täter im Dienste des Verbrecherregimes. Aber andere Hunderttausende trauerten. 80.000 wurden ermordet, viele andere gequält, gefangen gehalten, vertrieben, beraubt und geschändet, waren so wie das Land Opfer des Nationalsozialismus.

Das sind die beiden Seiten der Medaille. Wenn Darabos Habsburgs Aussage als Skandal sieht, so verhöhnt er diese Opfer: Österreich und den Widerstand. Er stellt sich außerhalb eines Konsens, der auch die Verpflichtung des heutigen Österreich für jene Menschen umfasst, die auf unserem Staatsgebiet Opfer der Nazis wurden. Ein Konsens, der zur Grundlage für Nationalfonds, Entschädigungsfonds, die Rückstellung geraubten Kulturguts wurde. Vor dem versammelten israelischen Parlament begrüßte mich Präsident Rivlin im Jahre 2005 mit den Worten: „Österreich ist seiner Verantwortung gerecht geworden, allerdings ein wenig spät.“

Um aus der Geschichte Lehren ziehen zu können, muss man die ganze Wahrheit, beide Seiten der Medaille kennen. Natürlich hat Kanzler Dollfuß schwere Fehler gemacht, die Demokratie in Österreich beendet, die Parteien verboten, eine Diktatur eingeführt, den Aufstand der Sozialisten mit unglaublicher Härte niedergeschlagen, aber: Bis 1938 war Österreich Schutzhafen für viele Juden und andere Verfolgte, Dollfuß bekämpfte den Nazi-Terror im Lande und bezahlte wie hunderte andere dafür mit seinem Leben.

Gleichermaßen verschweigt Wesentliches, der nur den Jubel am Heldenplatz sieht und daraus die Zustimmung des ganzen Österreich zum Anschluss und allen folgenden Verbrechen folgert. Viele waren hingetrieben worden, gingen aus Neugier oder feierten den Anschluss, nicht den Nationalsozialismus. Gleichzeitig rollten die Sonderzüge ins Konzentrationslager nach Dachau, wurde verhaftet, flüchteten hunderte in den Selbstmord, formierte sich der erste Widerstand.

Wer in Karl Renner nur den verdienstvollen Republikgründer und Präsidenten sieht, übersieht seinen taktisch begründeten Rücktritt als Nationalratspräsident, der Vorwand für das Ende der Demokratie wurde, seine öffentliche Unterstützung des Anschlusses und sein Andienen an einen weiteren Diktator, Stalin. Die ganze Wahrheit ist zumutbar.

Allzu viele wollen die Geschichte zum Ausgleich offener Rechnung, zum politischen Tagesstreit benützen, ziehen sie als Keule dem politischen Gegner über den Schädel. Die Arbeit an einem Konsens über die Jahre 1933 bis 1938 muss weitergehen. Ein Haus der Geschichte, zugleich ein Mahnmal für die Nazi-Opfer in Österreich, ist überfällig.

Univ.-Prof. Andreas Khol war Nationalratspräsident.

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("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.03.2008)