Das neue Österreich liegt im Depot 

LEITARTIKEL VON HANS WERNER SCHEIDL (Die Presse) 27.12.2005 

Die große Schau ist zu Ende - in ihre Einzelteile zerlegt. Die Versatzstü cke hat man in einem Depot des Bundesheeres untergebracht, die Leihgaben sind zurückgegeben, das Obere Belvedere dient wieder als Bundesmuseum, als Gemäldegalerie: Schluss für die Jahresausstellung "Das moderne Österreich", Schluss für das "Gedankenjahr". 
Vergessen sind damit auch die Misshelligkeiten im Vorfeld dieses Gedenkjahres, anfängliche Konzept- und Ratlosigkeiten, gepaart mit sträflichem Desinteresse des zunächst damit betrauten Bildungsministeriums. Es bedurfte dreier Privatleute, die 2004 beim Bundeskanzler und in der "Presse" Alarm schlugen, dass da eine ganz große Chance mutwillig vergeben werde. 

Österreichisch halt. Dann der fast rührend anmutende Eifer sämtlicher Museumsleiter landauf, landab, doch noch etwas zum Gedenkjahr beizutragen. All das eben ziemlich spät - alles sehr menschlich. 

Was bleibt? Zunächst einmal eine schier unübersehbare Anzahl wertvoller zeitgeschichtlicher Werke. Denn die Historiker arbeiteten seit Jahren auf diesen Zeitpunkt hin, an dem sich das Kriegsende, der Staatsvertrag, die "immerwährende" Neutralität, der Aufbau des Bundesheeres, der Beitritt zur Europäischen Union so passend "rundeten". Wer will, kann jetzt wirklich jede noch so feine Verästelung auf dem Weg zur Erringung der staatlichen Souveränität nachvollziehen - und wird schließlich voll Dankbarkeit feststellen müssen, welch unverdientes Glück den Österreichern nach 1945 zuteil wurde. 

Ob das die vielen Schulklassen auch so sehen, die sowohl das Belvedere als auch die Schallaburg in hellen Scharen stürmten, muss sich erst noch weisen. Den Vorwurf, an der eigenen Geschichte desinteressiert zu sein, kann man ihnen jedenfalls nicht machen. Dass es für sie eine doch recht ferne Epoche ist - wer will ihnen das zum Vorwurf machen? 

Es war zweifellos richtig, den Bogen der Erinnerung weiter zu spannen, als es die ursprünglichen Konzepte vorgesehen hatten. "1934", "1938", "1945", "1955" sind in ihrer fast zwangsläufigen Abfolge nicht zu verstehen, wenn der Angelpunkt dieses grausamen Jahrhunderts fehlte: der Erste Weltkrieg. Gewiss - sehr weit entfernt. Und doch: ein österreichischer Krieg, eine politische Fehleinschätzung sondergleichen, ein verbrecherisches Hinmetzeln unter einem greisen, handlungsunfähigen Kaiser und Apostolischen König. Der Absturz ins Bodenlose war die Folge, und aus dieser Abwärtsspirale konnte sich Europa nicht retten. 

Umso erstaunlicher der Wiederaufstieg Österreichs in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Gewiss: mit ausländischer Hilfe und noch viel mehr Glück. Aber nach der unversöhnlichen Auseinandersetzungen in der Ersten Republik, der ständigen Frage, ob dieser Rest der Monarchie allein überhaupt lebensfähig sei oder sich nicht doch mit Deutschland vereinigen sollte, erst recht nach der Weltkatastrophe 1939-1945 hatten die Gründungsväter dieser 2. Republik ihre Lektion begriffen. Ein "neues Österreich" musste es sein; eines, das selbstbewusst seinen eigenen Weg geht, mit Toleranz und strikter Achtung der Meinungsfreiheit für jedermann. 

Auch das sollte vom Gedankenjahr bleiben: zwar kein überzogener Patriotismus (zu dem die Österreicher sowieso nicht fähig wären), aber doch ein eher unpathetischer Nationalstolz - im Bewusstsein, in die europäische Völkerfamilie eingebettet zu sein. Und mit der steten Verpflichtung, Wohlstand und Sicherheit, Aufschwung und Friedfertigkeit jenen Staaten zukommen zu lassen, die schon einmal unter einem gemeinsamen Dach zusammen gelebt hatten. Ihnen hat das Schicksal das weitaus härtere Los zugedacht als den Österreichern, den Glückskindern. 

Es ist zwar Zufall, aber wenigstens ein positiver, dass just in diesem Ge denkjahr ein unrühmliches Kapitel österreichischer Nachkriegsgeschichte geschlossen werden konnte - viel zu spät, aber doch: die Entschädigungszahlungen an die Opfer des Nazi-Regimes. Kanzler Schüssel hat mit dieser Geste viel zur Reputation des Landes beigetragen, die Österreich in den turbulenten Jahren davor abhanden gekommen war. 55 Jahre ließen seine Amtsvorgänger tatenlos verstreichen, sieht man von verbalen Schuldbekenntnissen ab. 

Wenn Schüssel sich jetzt auch noch für ein "Haus der Geschichte" ähnlich stark macht, dann darf man hoffen, dass die Bestandteile der Belvedere-Ausstellung nicht bis zum Sankt-Nimmerleinstag im Heeres-Depot in Breitensee vergammeln.