Oliver Rathkolb: Da gibt es zwei Möglichkeiten: Man kann die historischen Erinnerungssteine für 2008 als Inszenierungsevents umsetzen oder aber – und das ist der weitaus schwierigere Weg – eine kritische und tiefschürfende Auseinandersetzung mit den Ereignissen versuchen. Tendenzen sehe ich in beide Richtungen – wie es tatsächlich ausgehen wird, kann ich jetzt noch nicht beantworten. 2005, als es um 60 Jahre Kriegsende und Zweite Republik, 50 Jahre Staatsvertrag und 10 Jahre EU-Beitritt ging, war diesbezüglich leider ein Jahr der vielen verpassten Möglichkeiten.
2008 hat bereits begonnen: Wissen Sie, was an Aktivitäten alles geplant ist?
Zwei Daten werden sicher zentral sein: Das ist zum einen der 12. November 1918, an dem die Erste Republik ausgerufen wurde. Dazu ist eine Ausstellung, eine Art "Geschichte der Republik seit 1918" geplant. Das zweite Eckdatum ist der 12./13. März, also der Anschluss Österreichs an Deutschland. Hier wird es eine Reihe offizieller Veranstaltungen, unter anderem der Regierung geben. Im Mai ist auch eine Aktion der Initiative "A Letter to the Stars" vorgesehen, die ich aber ebenfalls unter der Rubrik Eventkultur einordnen würde: Gut gemeint, gut geplant, aber von geringer Nachhaltigkeit und – zumindest meiner Meinung nach – mit einem zu hohen Finanzaufwand. Diesen hätte man viel besser in andere symbolische Projekte investieren können. Es wäre etwa hoch an der Zeit, endlich die Frage der verwahrlosenden jüdischen Friedhöfe in einer Form zu lösen, die unserer Geschichte und unserer Verantwortung gerecht wird. Man könnte alle geplanten Veranstaltungen und Feiern sofort und per Dekret stornieren, wenn nur dieses Thema gemeinsam vom Bund und den drei hauptbetroffenen Bundesländern Wien, Niederösterreich und Steiermark angegangen würde. Das wäre tausendmal besser und von ungleich größerer Nachhaltigkeit als alle Feiern und Veranstaltungen zusammen. Von symbolisch-politischer Wirkung muss man gar nicht erst sprechen. Aber ich bin hier Realist, diese Frage zieht sich schon so lange hin, deshalb wäre ich schon mit einer Kosten- und Machbarkeitsstudie zufrieden. Das würde die Republik nicht mehr als 400.000 Euro kosten.
Hängt die auffällige Ruhe von offizieller Seite zum Jubiläumsjahr damit zusammen, dass die Ereignisse 1918, 1933 und 1938 aus Sicht der Politik alles andere als "sexy" sind?
Das Interesse der großen Koalition, Geschichtspolitik zu betreiben, ist im Vergleich zu 2005 unter der Schüssel-Regierung tatsächlich sehr viel geringer – vielleicht auch aus der Erfahrung des letzten Mals. Hinzu kommt, dass derzeit ohnehin so viele politisch-historische Debatten im Zusammenhang mit Migration und Islam toben, dass man damit schon alle Hände voll zu tun hat. Und schließlich spielt wohl auch die von Ihnen angesprochene negative Konnotation ebenfalls eine Rolle. Das Jahr 1918 wird subkutan immer auch mit dem Zusammenbruch des Habsburger-Reiches wahrgenommen, obwohl das im Bewusstsein der Bevölkerung keine große Rolle mehr zu spielen scheint. Dass dem als Positivum die Gründung der Republik mit einer wirklich innovativen Verfassung gegenübersteht, scheint angesichts der herrschenden Vorstellung, nach der eine Verfassung eben nicht "sexy" ist, unterzugehen. Es würde der österreichischen politischen Kultur angesichts ihres problematischen Umgangs mit der Verfassung ganz gut tun, sich wieder einmal deren Bedeutung in Erinnerung zu rufen. Das Jahr 1918 wäre ein guter Anlass, diesbezüglich kritisch zurückzuschauen. Gerade in jüngerer Zeit werden wir schließlich mit sich häufenden Verfassungsbrüchen maßgeblicher Politiker konfrontiert. Aber nach einer solchen Auseinandersetzung scheint es kein Bedürfnis zu geben.
Nur zur Klärung: Die Parteien bezichtigen sich ja gegenseitig des Verfassungsbruchs – welche Themen sprechen Sie an?
Zuallererst die Ortstafelfrage. Für mich als Zeithistoriker und Juristen ist das völlig inakzeptabel. Hier geht es um einen klaren Missbrauch der Geschichte für politische Zwecke. Mitverantwortlich für die negative Konnotation des Jahres 1918 ist der Umstand, dass über Jahrzehnte hinweg der politischen Bildung jeglicher demokratiepolitische Leitfaden von der Vergangenheit in die Gegenwart gefehlt hat. Erst jetzt, mit der Einführung von Wählen mit 16, ist das Interesse der Verantwortlichen an politischer Bildung massiv gestiegen. Das Wissen über das Funktionieren von Demokratie spielt endlich eine Rolle.
Was können wir für die Gegenwart aus dem Scheitern der Ersten Republik lernen, außer dem banalen Appell, die Parteien mögen doch bitte aufhören, ständig zu streiten und gefälligst zusammenarbeiten?
Hier muss man zwei Ebenen auseinanderhalten: Erstens ist das Österreich des Jahres 2008 nicht das Österreich der Zwischenkriegs- und NS-Zeit. Das derzeitige Gejammere über Parteienstreit und darüber, dass angeblich alles schlechter wird, ist ein sehr oberflächlicher Befund. Ich habe 2004 und 2007 eine Umfrage zum autoritären und demokratischen Zustand der Gesellschaft durchführen lassen, und die Ergebnisse waren insbesondere im Vergleich zu einer ähnlichen Studie aus 1978 äußerst interessant: Am Höhepunkt der Kreisky-Ära war die Bevölkerung noch in einem Ausmaß autoritär geprägt, dass einem im Rückblick kalte Schauer über den Rücken laufen. Damals gab es Antisemitismus der massivsten Form und auch eine klare Mehrheit für die Wiedereinführung der Todesstrafe. Heute sind die Menschen demokratiepolitisch reifer und offener – das gilt im Vergleich zum Jahr 1978 und noch viel mehr zur Zwischenkriegszeit. Und trotzdem stellen oberflächliche Umfragen eine verbreitete allgemeine Unzufriedenheit und ein scheinbares Desinteresse an der Politik vor allem bei der Jugend fest. Ein paradoxes Ergebnis: Die Politik scheint ihre Chancen bei einer offeneren Bevölkerung nicht nützen zu können.
Das führt uns wieder in das Jahr 1918 zurück: In der heutigen Gesellschaft gibt es nach wie vor Überreste dieses Traumas, auch im Sinne eines unbewältigten Nationalitätenkonflikts am Ende der Monarchie. Das klingt nur auf den ersten Blick absurd, zeigen doch alle Befunde, dass die Österreicher absolute Demokraten sind. Und trotzdem, das hat sich etwa bei der EU-Erweiterung gezeigt, ist unser Verhältnis zu den Nachbarn von den gleichen Stereotypen geprägt, wie sie um 1900 existierten: Die Abneigung gegen die Tschechen, die Ambivalenz im Umgang mit den Polen, die positive Sicht der Ungarn, das Kärntner Sonderverhältnis zu den Slowenen.
Hängt auch die so hysterisch geführte Islamdebatte mit dieser Vergangenheit zusammen?
Diese Diskussion fällt auf einen gut vorbereiteten historischen Boden. Die Erinnerung an die Türkenkriege ist, vor allem in Wien, Niederösterreich, dem Burgenland und der Steiermark, noch relativ wach, es gibt hier zahlreiche Erinnerungsorte wie Denkmäler, Sagen etc.. Die Erinnerung daran wird durch den Unterricht oder Familientraditionen am Leben erhalten und kann bei Bedarf ohne größeres Problem für eine Islam-, Terror- oder 9/11-Debatte neu aufgeladen werden. Deshalb hat mich auch nicht verwundert, dass in einem lokalen Wahlkampf wie in Graz, bei dem es eigentlich um ganz andere Probleme gehen sollte, plötzlich eine Religionsdebatte geführt wird.
Die Erinnerung an 1918 wäre überdies eine Chance für eine neue Selbstdefinition Österreichs im Umgang mit dem Anderen, dem "Fremden". Gerade Ostösterreich ist das Resultat einer Binnenwanderung von Böhmen, Mähren und so weiter, versteht sich aber nicht in diesem Sinne. Daran ändern auch rationale Appelle des Wiener Bürgermeisters an das Namensverzeichnis im Telefonbuch nichts, diese Argumentation kommt bei den Menschen nicht an. Gerade in Wien kommt noch hinzu, dass rund ein Drittel der Schüler und Schülerinnen über einen Migrationshintergrund mit völlig unterschiedlichen historischen Erfahrungen verfügt. Die Diskussion um einen nationalen Wertekanon wird sich also zwangsläufig diversifizieren. Die Antwort auf die Frage "Wer sind wir Österreicher?" ist vor allem in den urbanen Zentren heute ungleich schwieriger zu beantworten.
Welchen Stellenwert hat die Zwischenkriegszeit mit ihrer fatalen Polarisierung im Bewusstsein?
Die Mehrheit der Bevölkerung kann mit dieser Zeit nichts mehr anfangen, das ist das zentrale Problem. Im Dezember 2007 wurde im Rahmen eines von mir geleiteten und vom Zukunftsfonds finanzierten Projekts eine Umfrage gemacht, deren Ergebnis nachdenklich stimmen muss: Auf die Frage, ob sie Ex-Kanzler Engelbert Dollfuß für eine bedeutende Persönlichkeit halten, antworten mehr als ein Drittel mit "keine Ahnung" oder "weiß nicht"; 15 Prozent lehnen diese Behauptung klar ab, 10 Prozent stimmen ihr voll zu, der Rest will sich nicht festlegen. Und jeder Zweite sieht sich außerstande, zu der Aussage "Dollfuß hat 1933 die Demokratie zerstört" Stellung zu nehmen.
Wissenschaftlich ist längst alles aufgearbeitet. Auch Andreas Khol (Ex-Nationalratspräsident der ÖVP; Anm.) sieht heute die Ereignisse des Jahres 1933 nicht mehr als "Selbstauflösung des Parlaments", sondern als eindeutigen Verfassungsbruch. Nur spielt diese Zeit im öffentlichen Diskurs – sieht man von der regelmäßigen Debatte über das Dollfuß-Porträt im ÖVP-Parlamentsklub ab – keine Rolle mehr. Es geht längst nicht mehr um Parteigeschichte, sondern um die Tatsache, dass 1933 die Demokratie zerstört wurde und die Ursachen für diese Entwicklung. Es gibt keine historischen Erinnerungspunkte mehr für politisches Handeln.
Für Kreisky war die Massenarbeitslosigkeit der Zwischenkriegszeit zentral für seine Politik des Deficit spending . Solche Bezugspunkte fehlen in der heutigen Politik völlig. Die Zwischenkriegszeit verschwindet im Dunkeln der Geschichte. Das ist für mich mit ein Grund, weshalb auch der Sozialpartnerschaft die Unterstützung zu entgleiten droht.
Ist das gut oder schlecht? Immerhin ist die Sozialpartnerschaft gerade vom demokratiepolitischen Standpunkt aus – Stichwort mangelnde Transparenz und rot-schwarze Klientelwirtschaft – für viele Kritiker problematisch.
Das Problem ist, dass das historische Bewusstsein für die Entstehung der Sozialpartnerschaft verschwunden ist, man sieht nur noch das Endergebnis, etwa die mangelnde Transparenz.
Die Politiker aller Parteien, ich möchte hier keine ausnehmen, haben kein Verständnis mehr für die Mechanismen des Verbalradikalismus – und mitverantwortlich dafür ist, dass wir das Bewusstsein für die Folgen in der Zwischenkriegszeit verloren haben. Deshalb drohen wir, erneut in diesen verbalen Radikalismus zurückzufallen: Je tabuloser man sich äußert, desto größer sind die Chancen, in die Medien zu kommen – und das völlig losgelöst von jeglicher Ideologie! Erschreckend ist, dass die Medien bei diesem Spiel mitmachen und die Verbalradikalismen nicht auf die letzten Seiten verbannen . . .
. . . es gab wohl in der vergangenen Woche keine Redaktion, in der nicht diskutiert wurde, welchen Platz man der jüngsten Islam-Debatte einräumen soll.
Man vergisst, dass Verbalradikalismen eine Gesellschaft spalten können. Niemand hätte bis vor kurzem gedacht, dass Belgien heute am Rand einer Spaltung stehen könnte. Hier wurde mit "Hate-Speech" das öffentliche Bewusstsein geformt – und wir müssen uns klar sein, dass es damit keinen rationalen Umgang gibt. Man kann nicht mit Argumenten dagegen die Oberhand behalten. Diese historische Erfahrung der Zwischenkriegszeit ist uns heute verloren gegangen. Wir sollten sie uns zurückholen.
Erschwert nicht das typisch österreichische Augenzwinkern der Politiker beim tagtäglichen Schlagabtausch – man sagt es zwar, aber meint es nicht so – eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der Hass-Sprache?
Das ist sicher ein Element, nur wird dieses Augenzwinkern von den Menschen nicht wahrgenommen, der Verbalradikalismus bekommt eine Eigendynamik. Auch Kandidaten, die dies nicht wollen, müssen sich überlegen, wie sie unter diesen Bedingungen Öffentlichkeit bekommen. Seit den 80er Jahren ist hier die Hemmschwelle massiv reduziert worden, das ist zweifellos ein historisches "Verdienst" Jörg Haiders. Solange diese Mechanismen funktionieren, müssen wir wohl oder übel mit weiteren Verbalradikalismen leben. Wahrscheinlich so lange, bis es eine entsprechend negative Antwort der Wähler und Wählerinnen auf diese Strategie gibt.
Stichwort 1938: Nach 1945 wurde alles darangesetzt, dem "Anschluss"-Trauma ein österreichisches Nationalbewusstsein entgegenzusetzen. Seit 1995 sind wir aber Teil der EU. Wie kann ein Brückenschlag zwischen diesen Identitäten aussehen?
Das sehe ich tatsächlich als schwierigste Herausforderung. Der Wiener Historiker Gerhard Botz hat zurecht die ersten Jahre der NS-Zeit als eine "Zustimmungsdiktatur" bezeichnet: Eine überwiegende Mehrheit der Bevölkerung quer durch alle politischen Lager hat den Anschluss begrüßt. Nach 1945 ist es gelungen, aus dieser pro-deutschen Haltung eine eigene nationale Identität zu formen. Österreich rangiert heute unter den Top 4 in der Frage des Nationalbewusstseins. Hier liegt für mich der Schlüssel für die beiden wichtigsten gesellschaftlichen Debatten der Gegenwart: die Fragen von Migration und europäischer Integration. Wir haben einen hohen Preis für unseren Erfolg beim Nationalgefühl bezahlt, der darin besteht, dass wir uns nicht als Teil EU-Europas fühlen. Wer hätte noch 1995 geglaubt, dass wir uns in Sachen Euro-Skeptizismus einmal mit den Briten um die Top-Position matchen?
Die Folgen zeigen sich etwa darin, dass wir nicht über ein Einwanderungsgesetz diskutieren, stattdessen dominiert der Streit über das Asylgesetz. Das Problem ist nur: Die Migranten und Migrantinnen, die bei uns leben, können sich zunehmend nicht in der dominierenden engen, kleinstaatlichen österreichischen Identität wiederfinden. In ihnen wächst ein Konflikt zwischen der sehr robusten österreichischen Identität, der Kultur ihrer jeweiligen Herkunftsländer und zunehmend auch einer offeneren europäischen Identität heran. Gerade für Jugendliche ist ein solcher Konflikt eine große Herausforderung.
zur person
Oliver Rathkolb, geboren am 3. November 1955 in Wien, ist Universitätsprofessor und seit 2005 Leiter des Ludwig Boltzmann Instituts für Europäische Geschichte und Öffentlichkeit. Der Doppel-Doktor für Recht (1978) und Geschichte (1982, beide Male promovierte er an der Universität Wien) engagiert sich zusätzlich als wissenschaftlicher Direktor der interdisziplinären Internetplattform http://www.demokratiezentrum.org.
Seine Forschungsschwerpunkte sind europäische, österreichische und internationale Zeitgeschichte, die er bisher in mehr als hundert wissenschaftlichen Aufsätzen publizierte. Rathkolb war Schumpeter Forschungsprofessor an der Harvard University (2000/01), Gastprofessor am Institut für Zeitgeschichte an der Universität Wien (2001) sowie Gastprofessor an der University of Chicago. Für sein Werk "Die paradoxe Republik, Österreich 1945–2005" (Wien, Zsolnay Verlag 2005) wurde er mit dem Bruno-Kreisky-Preis für das politische Buch sowie dem Donauland-Sachbuchpreis ausgezeichnet. Er verfügt über einen Ruf an die Universität Wien für einen neu geschaffenen Lehrstuhl für österreichische Zeitgeschichte im internationalen Kontext.
Rathkolb ist verheiratet und Vater von zwei Kindern.