Das Jahr 2008 naht. Zweier Ereignisse gilt es zu gedenken, damit wir auch heute noch wissen, woher wir kommen. 1918 wurde aus dem Vielvölkerstaat der Habsburger die kleine demokratische Republik Österreich – ein Staat, den keiner wollte. Nur 20 Jahre später fand diese „Erste Republik“ nach Parteienhader, Bürgerkrieg und Diktatur ihr Ende. Dem Anschluss an das Deutsche Reich, den Verbrecherstaat des Nationalsozialismus unter seinem Führer Adolf Hitler, jubelten am Wiener Heldenplatz 300.000 Begeisterte zu. Jubel gab es auch in den Bundesländern. Die vielen Gegner des Nationalsozialismus konnten sich nicht zeigen, nicht öffentlich manifestieren.
Aber vergessen wir nicht: In den letzten freien Wahlen 1932 in Österreich, vor der Diktatur des Ständestaates, erhielten die Nationalsozialisten 40% und mehr Stimmen; der Nazi-Terror zeigte in tausenden Anschlägen bis 1938 seine breite Unterstützung im Volke. Kardinal Theodor Innitzer und der 1.Staatskanzler der noch jungen Republik, Dr. Karl Renner, der dennoch große Sozialdemokrat, riefen dazu auf, in der Volksabstimmung über den Anschluss mit „Ja“ zu stimmen. Diese Abstimmung war weder frei noch geheim, ihr Ergebnis manipuliert, aber eins ist klar: Ein Großteil stimmte dem Anschluss zu.
In einer Christkönig-Feier im und vor dem Wiener Stephansdom bewiesen 6000 katholische Jugendliche am 6.10.1938 Mut und demonstrierten als einzige gegen den Nationalsozialismus; darauf stürmten die Nazis das erzbischöfliche Palais.
Die Fragen, die ich mir immer wieder stelle: Wie konnte aus dem „Volk der Dichter und Denker“ ein so grausamer, vom Volk bis zum Schluss durchgetragener blutrünstiger Verbrecherstaat werden? Wo wäre ich wohl gestanden: am Heldenplatz oder am Stephansplatz? Zuerst am Heldenplatz und dann am Stephansplatz? Aus den neueren historischen Forschungen wird die Antwort auf die erste Frage klarer.
Die zweite Frage ist eine Prüfung, der sich jeder unterziehen sollte. Die verbreitete Selbstgerechtigkeit der Enkelgeneration ist da völlig fehl am Platz, ja sogar ärgerlich. „Immer am lautesten hat sich der Unversuchte entrüstet“, so Werner Bergengruen. Heute, da wir den Gang der Geschichte, die Verbrechen und Unmenschlichkeiten kennen, sieht sich jeder bei den Guten, den Gerechten. Aber was wussten, was konnten die Menschen 1938 und bis zum Ende des Krieges in Radio und Zeitung erfahren?
Ein großartiges Informationsprojekt beginnt im Jänner 2008 in Österreich. In 52 Wochenausgaben, erhältlich in den Trafiken und im Zeitschriftenhandel, werden alle wichtigen Ereignisse von 1938 bis zum Kriegsende 1945 dokumentiert. Die Originaltexte der Medien bis 1945 werden nachgedruckt: z. B. zum Anschluss das „Kleine Blatt“ und die „Prager Presse“, vom 13.3.1938. Namhafte Zeitgeschichtler stellen den großen Zusammenhang her, entlarven die Manipulation. Ein monumentales Vorhaben, das sicherlich viel zur eigenen Meinung beitragen kann. Ein Privatmann aus England ist Initiator und Financier. Die Schüler aller Schulen im Zeitgeschichte-Unterricht sollten davon profitieren können! (Projekt „NachRichten“, sandra.paweronschitz@univie.ac.at)
Univ.-Prof. Andreas Khol war Nationalratspräsident.
meinung@diepresse.com
("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.12.2007)