Das Gedächtnis Mitteleuropas

 

 

 

 

 

 

 

Von Reinhard Göweil

 

 

·         Im neuen Kulturministerium im Kanzleramt sind Staatsarchiv und Nationalbibliothek unter einem Dach

·         Johanna Rachinger und Wolfgang Maderthaner über Kooperationen.

 


Die finanziellen Unklarheiten rund um das Burgtheater bereiten dem neuen Kulturminister Josef Ostermayer vermutlich größeres Kopfzerbrechen, doch die Neuordnung der Ministerien macht ihn eher zufällig auch zum "Groß-Archivar" der Republik. Und auch da erbt er einige schwierige Entscheidungen: Nationalbibliothek und Staatsarchiv werden künftig aus einem Ministerium heraus gesteuert. Beide zusammen sind das wichtigste Gedächtnis des kontinentalen Europas. Einige Beispiele: Im Staatsarchiv sind auf 183.700 Regellaufmeter sämtliche Akten Österreichs bis zurück in die Josefinische Zeit gesammelt. 800.000 Bände befinden sich in der Bibliothek. Die
Nationalbibliothek verfügt über 500.000 Druckwerke, darunter eine der besten Inkunabel-Sammlungen (und immerhin noch 650 Werke der Gattung "Erotika".)

Als Sinnbild der Gemeinsamkeit beider Häuser darf wohl die "Goldene Bulle" gelten, das bedeutendste "Verfassungs-Dokument" des Mittelalters, seit dem Vorjahr im Rang eines "Weltdokumentenerbes". Zwei Exemplare (das böhmische und das Mainzer) aus dem Jahr 1356 befinden sich im Staatsarchiv. Deren prunkvolle Abschrift von König Wenzel aus dem Jahr 1400 wird in der Nationalbibliothek verwahrt. Die Goldene Bulle regelte Wahl und Zeremoniell der Könige im Heiligen Römischen Reich und war bis 1806 in Geltung.

 

Treffpunkt Literaturmuseum

 


 

Derart genaue gemeinsame Regelungen gibt es für Staatsarchiv und Nationalbibliothek nicht, immerhin aber ein gemeinsames Projekt: Derzeit wird das Literaturmuseum in der Wiener Johannesgasse, das als "Grillparzer-Haus" firmieren wird, von der Burghauptmannschaft um- und aufgebaut. Die Eröffnung ist im Frühjahr 2015 vorgesehen, und das Museum wird von beiden Häusern genutzt und "bespielt" werden. Bei diesem Umbau spielen auch private Sponsoren eine Rolle, denn die Nationalbibliothek hat die sogenannte Teilrechtsfähigkeit, kann also private Mittel annehmen. Was deren Generaldirektorin, Johanna Rachinger, durchaus schätzt. "Welcher Leiter einer kulturellen Institution möchte das nicht?", sagt der Generaldirektor des Staatsarchivs, Wolfgang Maderthaner. Sein Haus wird im Moment als Dienststelle des Bundeskanzleramtes geführt. Im Staatsarchiv arbeiten 107 Mitarbeiter, die Nationalbibliothek hat 370 Beschäftigte.

"Durch die neue Organisation des Ministeriums wird die Zusammenarbeit erleichtert, und ich kann mir auch eine stärkere Kooperation vorstellen", sagt Johanna Rachinger von der Nationalbibliothek. Und auch Wolfgang Maderthaner ortet ein gemeinsames Thema: "Die Digitalisierung der Bestände ist ein enormes Thema. Die Speicherung verschlingt aber Unsummen. Und wir sind auf der Suche nach einer Technologie, die ein dauerhaftes digitales Depot ermöglicht." Die Nationalbibliothek ist da eine Spur weiter, da sie mit Google einen Vertrag über die Digitalisierung von Beständen abgeschlossen hat. Ein Weg, der dem Staatsarchiv verwehrt ist. "Wir tun, was wir können", sagte Maderthaner.

Eine Fusion der Häuser können sich beide aber nicht vorstellen. Vergleichbare Projekte etwa in Belgien und Irland brachten wenig Erfolg, kosteten aber viel Geld. Maderthaner: "Die Forschung in diesem Bereich ist nicht eindeutig definiert, es hat jedes Haus seine eigene Methode entwickelt."

Ebenfalls ordentlich ins Geld wird der geplante Tiefspeicher der Nationalbibliothek unter dem Heldenplatz gehen. Rachinger rechnet mit Kosten in Höhe von 35 bis 40 Millionen Euro, was in der Bauindustrie für eher niedrig geschätzt gehalten wird. Rachinger: "Ich bin dankbar, dass das Projekt im Regierungsübereinkommen extra erwähnt wurde." Wann der Bau des Speichers beginnt, steht aber noch in den Sternen. Die Regierung hat dafür immerhin bis 2018 Zeit. Das Staatsarchiv dürfte diesen Speicher eher nicht nutzen, dazu sind die beiden Häuser zu weit voneinander entfernt. Das Staatsarchiv sitzt in Erdberg im 3. Bezirk, die Nationalbibliothek am Heldenplatz in der Innenstadt.
 "Aber die Universitätsbibliothek hätte durchaus Interesse, Platz zu nutzen", so Rachinger.

Sowohl Nationalbibliothek als auch Staatsarchiv verfügen über umfangreiche Zeitungsbestände, von der Nationalbibliothek unter dem Schlagwort "Anno" bereits teilweise elektronisch abzurufen. Trotzdem ist es das Staatsarchiv, das im Juni mit einer Ausstellung "Medien und Krieg" an den Ersten Weltkrieg erinnert. Auch die Nationalbibliothek durchforstete für das 1914-Gedenkjahr ihre Schätze, im März wird diese Ausstellung eröffnet. Für 2015 wird vom Staatsarchiv bereits eine Ausstellung zum Thema "200 Jahre Wiener Kongress" vorbereitet, die Nationalbibliothek hat dafür nichts vorgesehen. Ob die dort schlummernden Erinnerungen an Metternich den Kollegen zur Verfügung gestellt werden, ist noch nicht besprochen.

Das Staatsarchiv verfügt über eine der größten Akten- und Urkundensammlungen der Welt - vom Osmanischen Reich bis zu den Zentralbehörden der Habsburger-Monarchie. Aktuelle Herausforderung: Der sogenannte "elektronische Akt" der jetzigen Behörden - auch sie werden im Staatsarchiv aufbewahrt.

"Wir zählen sicher zu den Top-Archiven weltweit, weil eben auch die Geschichte anderer Länder wie jener am Balkan bei uns aufbewahrt wird", sagt Maderthaner. Grundlage für beide Häuser ist das weithin unbekannte "Bundesarchivgesetz" aus dem Jahr 1999. Es schreibt die "Sicherung, Aufbewahrung und Nutzung von Archivgut des Bundes" vor - beide Häuser müssen also sammeln. Daneben unterliegen noch Universitäten, Parlamentsdirektion und Bundesmuseen dem Gesetz.

Da die Bundesmuseen auch dem nun im Bundeskanzleramt angesiedelten Kulturministerium unterstehen, soll es Begehrlichkeiten geben, diese Aufgaben stärker zu bündeln. "Alles wird dem Diktat des Geldes unterworfen, kulturelle Aufgaben als Einsparungsmöglichkeit definiert", klagte ein Museumsdirektor, der namentlich nicht genannt werden wollte. Man will es sich mit dem neuen, allgemein als mächtig bezeichneten, Kulturminister Josef Ostermayer nicht gleich zu Beginn verscherzen.

Haus der Geschichte


Die kulturpolitische Aufgabe der Archivierung des zeitgenössischen Österreich wird im Regierungsübereinkommen nicht extra erwähnt, es soll insgesamt eine "bedarfsorientierte Finanzierung" geben. Immerhin wird darin erwähnt, "Vermittlungsaktivitäten zum Gedenkjahr 2018 - Projekt Haus der Geschichte" durchzuführen. Zusammenbruch der Monarchie und Gründung der Republik 1918 sowie den Untergang Österreichs 1938 gilt es bis dahin aufzuarbeiten und der Öffentlichkeit zu präsentieren.

 

Vermutlich werden für das "Projekt 2018" das Staatsarchiv und die Nationalbibliothek schon enger zusammenarbeiten, denn beide Häuser strotzen nur so vor Wissen um die damaligen Vorgänge. Wie sich das seit vielen Jahren geplante "Haus der Geschichte" in die Formation einfügt, steht indes in den Sternen. Leicht wird auch das nicht werden, denn die vor einigen Jahren angedachte engere Zusammenführung von Staatsarchiv, das ebenso über ein umfangreiches Kriegsarchiv verfügt, und dem Heeresgeschichtlichen Museum ist nicht weit gekommen. Beide Häuser sollten den Kern des "Haus der Geschichte" bilden, was von Historikern heftig kritisiert wurde. Eine Möglichkeit bietet - auch aus Budgetgründen - die von allen Verantwortlichen beschworene Digitalisierung: Alle Häuser könnten relevante Archiv-Bestände zu Österreich virtuell zusammenführen - das "Haus der Geschichte" würde so wenigstens im Netz erstehen.

Wiener Zeitung, 18./19. Jänner 2014